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Stellungnahme zur Resolution des "Rüsselsheimer
Kongresses" von Bernd Heyl
Ja, wir brauchen wirklich andere Zeiten!
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie haben auf dem o.g. Kongress eine "Resolution" unterschrieben
und diese mir mit der Bitte um Stellungnahme zugesandt. Ihrer
Bitte komme ich gerne nach, vor allem auch deshalb, weil ich Ihren
Positionen in vielen Punkten nicht zustimmen kann.
Erlauben Sie mir, dass ich mit Ihrem "Politikverständnis"
beginne, das Sie am Schluss Ihrer Resolution formulieren. Dort
heißt es: "Sie als Politiker haben Verantwortung übernommen
und wir erwarten von Ihnen, dass Sie diese Aufgabe auch für
zukünftige Generationen erfüllen". Sind Sie etwa
keine Politikerinnen und Politiker? Wir leben (noch) in einer
demokratischen Gesellschaft, in der politisch mündige Bürgerinnen
und Bürger über öffentlichen Diskurs, durch Engagement
in Bürgerinitiativen, Gewerkschaften und womöglich auch
Parteien und Listen mitgestalten und mitbestimmen. Und da ist
natürlich jeder für das Geschehen verantwortlich, Aktive
und Passive gestalten mit, die einen durch Engagement und die
anderen indem sie einfach geschehen lassen was geschieht. Mein
Kernanliegen ist die Emanzipation, die Subjektwerdung des Menschen
und ich lehne es grundsätzlich ab, meine Verantwortung vollmundig
anderen in die Schuhe zu schieben, behalten Sie bitte auch Ihre!
Ein weiteres Problem Ihrer Resolution ist ebenfalls eng mit dem
Begriff Verantwortung verknüpft. Der von Ihnen gewählte
abstrakte und nur für ausgewiesene Politikerinnen und Politiker
gelten sollende Verantwortungsbegriff negiert, vertuscht oder
ignoriert – wie auch immer – die Tatsache, dass es
in unserer Gesellschaft unterschiedliche Interessen gibt und dass
es in einer Demokratie selbstverständlich ist, sich zur effektiven
Interessenvertretung in Bürgerinitiativen, Gewerkschaften,
Verbänden etc zu organisieren. Das ist zunächst natürlich
kein Lobbyismus, sondern ein ganz normales Vorgehen, um eigene
Interessen im gesellschaftlichen Diskurs zur Geltung zu bringen.
Von Lobbyismus im negativen Sinne des Wortes muss man dann ausgehen,
wenn eine Interessengruppe "hinten herum" über
den öffentlich nicht kontrollierten Einsatz von Geldern,
von Sponsoring oder Schmiergeldern oder auch nur Vitamin "B"
einzelne in Verantwortung stehende Personen oder die ganze öffentliche
Meinung, den öffentlichen Diskurs manipuliert.
Für mich - und dies gilt für die Liste Solidarität
als Ganzes - ist es selbstverständlich, dass bei der Analyse
der gesellschaftlichen Verhältnisse die Frage nach den Interessen
der betroffenen und handelnden Menschen im Mittelpunkt der Überlegungen
steht. Vor diesem Hintergrund ist auch Ihre Positionierung hinsichtlich
der demographischen Entwicklung und des sogenannten Generationenvertrages
zu sehen. Das von Ihnen bemühte Argumentationsmuster hat
heute zwar fast hegemonialen Charakter, dies macht es jedoch nicht
weniger ideologisch. Vertiefende Analysen hierzu finden Sie u.a.
bei Horst Afheldt (Wirtschaft die arm macht) und Christoph Butterwegge
(Kinderarmut und Generationengerechtigkeit). Zu der von Ihnen
gewählten demografischen Sicht auf zentrale Zukunftsaufgaben
führt Butterwegge aus, sie impliziere "eine Tendenz
zur Entpolitisierung wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungsprozesse,
weil soziale Fragen auf demografische Probleme reduziert und restriktive
Lösungen im Sinne des National- bzw. Liberalkonservativismus
gewissermaßen vorprogrammiert werden: ..." Ein demografischer
Fatalismus bzw. Defätismus sei deshalb nicht angebracht,
"weil die gesetzliche Rentenversicherung wie der Wohlfahrtsstaat
überhaupt auf einem Grundkonsens darüber bestehen, welcher
Teil des Bruttoinlandsproduktes für Soziales ausgegeben wird
und welche gesellschaftlichen Gruppen, Schichten oder Klassen
wie viel ihres Primäreinkommens dafür abzweigen müssen.
In den medialen Diskursen zur sozialen Sicherung erörtert
man jedoch nicht, wie aus einer Verschiebung der Altersstruktur
resultierende Schwierigkeiten solidarisch bewältigt werden
können. Stattdessen fungiert die "ungünstige Altersstruktur"
als Legitimationsbasis für Sozial- und Rentenkürzungen"
(S.72/74) und in Ihrem Falle sogar für eine generelle Aufkündigung
des Generationenvertrages.
Da es ja um Sozialtransfers vom produktiven zum nichtproduktiven
Teil der Gesellschaft geht, lässt sich das von Ihnen gewählte
Argumentationsmuster auch noch ganz anders widerlegen: "In
den nächsten 40 Jahren wird die Zahl der Jungen unter 20,
deren Ausbildung und Unterhalt bezahlt werden muss, von heute
rund 17 Millionen auf 9,6 Millionen sinken. Andererseits steigt
die Zahl der über 59-Jährigen von heute 19,5 auf 25,6
Millionen. Die Zahl der von der Gesellschaft zu Unterhaltenden
liegt in beiden Fällen um insgesamt 35 Millionen, ändert
sich also praktisch kaum." (Afheldt, S.49) Wenn diese Zusammenhänge
klar sind, dann stellen sich als tatsächliche gesellschaftliche
Probleme die reale Arbeitslosigkeit und die sinkende Kaufkraft
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer heraus. Es stellt sich
also die Frage nach der Verantwortlichkeit für diese Missstände
und dabei sind wir sehr schnell bei der Frage der Verteilungsgerechtigkeit.
(In diesem Zusammenhang empfehle ich die von der IG-Metall herausgegebene
und von Matthias Möhring-Hesse redaktionell bearbeitete Denk-Schrift
fair teilen.)
Wir haben es in der deutschen Gesellschaft mit einer rasant zunehmenden
Umverteilung von Reichtum von unten nach oben zu tun, die Belege
erspare ich mir an dieser Stelle, sie sind in den bisher zitierten
Texten nachzulesen. Massive Steuergeschenke an Besserverdienende
und Unternehmen, die Unfähigkeit oder besser der Unwille
der Politik Steuerhinterziehung im großen Stil zu unterbinden
und die Privatisierung bisher gesellschaftlich geregelter Lebensbereiche
wie Altersversorgung, Strom, Post oder kommunale Dienste sind
die Ursachen für die gegenwärtige Krise. Sie wirken
verheerend im Kontext dessen, was schlagwortartig mit dem Begriff
Globalisierung verbunden wird. Telekom und Post bereichern jetzt
Aktionäre während der Service für die Kunden schlechter
und die Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
immer unmenschlicher werden. Die Privatisierung der Altersversorgung
schafft ein Feld für windige Geschäftemacher und der
zum Kunden degradierte Patient sieht sich einer inhumanen taylorisierten
"Pflege" ausgesetzt, wie sie nur der auf privaten Profit
bedachten Denke ausschließlich betriebswirtschaftlich geprägter
Manager entspringen kann.
Mc Kinsey kommt! Wer gebietet Einhalt?
Herunter transformiert auf die Ebene der Rüsselsheimer Kommunalpolitik
verweisen diese Zusammenhänge auf die Unmöglichkeit,
heute noch "Kommunal"politik zu treiben. Wer die genannten
Strukturen akzeptiert und nicht ändern will, der kann nur
dann eine Neustruktur der Stadt, die sie Handlungs- und überlebensfähig
macht, entwerfen, wenn er bereit ist diesen Prozess als bedingungslose
Anpassung an immer unmenschlicher werdende macht- und strukturpolitische
Vorgaben zu betreiben, wenn er bereit ist die legitimen Interessen
der Mehrzahl der hier lebenden Menschen aufzugeben und eine Stadt
nach dem Bedürfnis einer immer kleiner werdenden Schickeria
zu schaffen. Ihre so radikal daher kommende Aufkündigung
des Generationenvertrages ist exakt Ausdruck des Kältestromes,
mit dem das neoliberale Denken die Gesellschaft durchzieht.
Was bleibt also, wenn eine zivile, solidarische und am Leitbild
des Citoyen orientierte Stadtgesellschaft heute notwendig Utopie
bleiben muss? Es bleibt die notwendige Stärkung all der Kräfte,
die sich der Kolonialisierung der Lebenswelten, der Vermarktung
von Seele und Ästhetik, der Effektivierung von Arbeitsprozessen
auf Kosten der Gesundheit der Arbeitenden, der Verarmung des Alters
sowie dem Abbau einmal errungener sozialer und Bildungsstandards
- kurz und theoretisch formuliert der zunehmenden "reellen
Subsumtion" des Menschen unter die Bedürfnisse des Kapitals
- widersetzen. Für die Auseinandersetzung um die Haushaltskonsolidierung
bedeutet dies: Sorgen wir doch dafür, dass von Rüsselsheim
einmal mehr das Signal an die großen Parteien jedweder Couleur
ausgeht, dass viele Menschen hier nicht mehr bereit sind, ihr
Wohlbefinden an die Logik der Börse und des Regierungspräsidenten
zu koppeln. Wenn Christ-, Sozialdemokraten und Grüne vor
Ort an der "Uneinsichtigkeit" der Rüsselsheimrinnen
und Rüsselsheimer verzweifeln, dann sollen sie ihr Schicksal
in ihren Parteien kommunizieren! Wir wollen schon lange eine andere
Politik und wir lassen uns nicht für Interessen in die Verantwortung
nehmen, die nicht unsere sind.
Nun zu Ihren konkreten Fragen:
Ich sehe im Rüsselsheimer Etat kaum noch Konsolidierungsspielräume.
Auf den Bürgermeister könnten wir verzichten und der
jetzt begonnene Bahnhofsneubau ist auch überflüssig,
in beiden Fällen ist meine Position lange bekannt. Sicher
gibt es im Bauetat kurzfristig noch Einsparmöglichkeiten,
allerdings auch hier muss gesehen werden, dass Einsparungen auch
ein Verzicht auf Investitionen sind, d.h. ein Mitdrehen an der
allgemeinen Abwärtsentwicklung. Unter den gegebenen finanzpolitischen
Prämissen ließe sich Haushaltskonsolidierung nur erreichen,
wenn die Stadt sich von einem Großteil ihrer sozialen Einrichtungen
verabschieden, ihr Personal drastisch reduzieren und die Einwohnerinnen
und Einwohner noch mehr zur Kasse bitten würde (Letzteres
obwohl die Menschen ja ihre Steuern gerade für diese Leistungen
zahlen!). Dies zu erreichen ist Ziel neoliberaler Politik und
mein Ziel ist es, einen kleinen Beitrag zur Verhinderung oder
zumindest zum Abbremsen dieser Fehlentwicklung zu leisten.
Der meines Erachtens nötige Wandel im Bildungssystem
hat sehr wenig mit den Verwaltungsstrukturen zu tun. Was wir in
Deutschland brauchen ist ein neues philosophisches Bild von Kindheit
und Jugend. Schüler und Studenten sollen sich selbst als
in Entwicklung befindliche Subjekte in einer solidarischen Gemeinschaft
begreifen. Sie dürfen, wenn sie produktiv und konkurrenzfrei
lernen sollen nicht beschämt und nicht in unterschiedliche
Leistungsstufen selektiert werden. Bildung kann ebenso wenig eine
Ware sein wie Liebe. Genau dies ist übrigens das Erfolgsrezept
der skandinavischen Länder. Das dreigliedrige Schulsystem
muss abgeschafft werden und ein ganzheitliches Verständnis
von Bildung Platz greifen. Der zunehmende Einfluss der Wirtschaft
auf die Schule ist hier sicherlich hinderlicher als die auch von
mir nicht als sinnvoll empfundene Aufteilung der Verwaltungsfunktionen
zwischen Land und Schulträger.
Ich bin der Auffassung, dass in einem demokratischen
Gemeinwesen möglichst viele Aufgaben bürgernah, also
auf kommunaler Ebene zu leisten sind. Hier haben die Menschen
den Überblick, hier können sie demokratisch steuern.
Dies setzt aber eine deutlich bessere finanzielle Ausstattung
der Kommunen voraus und dieser Zusammenhang macht auch offensichtlich,
dass die Finanznot der Kommunen zur Entdemokratisierung führt.
Mit Recht fragt sich die Mehrheit der Menschen, warum sie überhaupt
noch wählen sollen, wenn doch eh alles durch die Gesetze
des Marktes vorgegeben ist. Ohne politische Spielräume und
ohne die nötigen Finanzen macht auch wählen keinen Spaß!
(Es sei denn man will die "Macher" mal so richtig ärgern
und wählt bei der nächsten Kommunalwahl die Liste Solidarität!)
Die letzte Landratswahl hat dies mehr als überdeutlich werden
lassen. Das in ihrer Fragestellung angelegte Abwägen, wie
viel weniger Soziales und wie viel mehr Soziokultur oder Investition
in Schulen brauchen wir, lehne ich ab. Wir brauchen von beidem
mehr!
Es ist eine schöne Frage, warum man in städtischen
Ausschüssen unbefriedigende Antworten bekommt. Oft wissen
Dezernenten und Verwaltung selbst nicht, was sie tun. Wie sollen
sie da präzise Antworten geben? Manchmal schämen sie
sich, weil sie ja eigentlich etwas anderes möchten (Beispiel
Rüsselsheim-Pass) und reden deshalb um den heißen Brei
herum. Bisweilen wird das Ganze dann durch reale Inkompetenz gewürzt
und in einigen Fällen gibt es noch keine Antworten weil ernsthaft
und aufrichtig nach Lösungen gesucht wird. Aber das wussten
Sie schon und worum es jeweils konkret geht, kann nur konkret
festgestellt werden.
Ich weiß nicht, ob mein politisches Grundverständnis
jetzt etwas klarer geworden ist. Es geht mir – in einem
Satz zusammengefasst – um die Arbeit an einem grundlegenden
Paradigmenwechsel. Das neoliberale Paradigma wirkt sich nicht
nur bei uns, sondern auch global verheerend aus und wir brauchen
weltweit eine radikal Wende zum Sozialen und Ökologischen.
Bei aller zu diskutierenden Problematik muss die Politik - lokal
wie global - wieder eine stärker steuernde Funktion einnehmen.
Bis dieses Ziel erreicht ist, gilt es möglichst viel von
dem zu erhalten, was historisch einmal erreicht war und möglichst
vielen Menschen Mut zu machen, sich gegen die Verschlechterung
ihrer Lebensbedingungen zu wehren. Sorgen wir gemeinsam dafür,
dass es nach dem hessischen Kahlschlag nicht auch noch zu einem
Rüsselsheimer Kahlschlag kommt!
Bernd Heyl
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